Wie gefährlich sind die Thesen des ECC/Instituts für Handelsforschung für die Branche?

Zum großen Leidwesen für die Branche und ihre Entwicklung wird die öffentliche Meinung im Online-Handel immer noch einseitig geprägt von den reaktionären Kräften (Handelsverbände sowie Organisationen und Institutionen des alten Handels). Diesen eingeschränkten Blick und die damit einhergehende Rückwärtsgewandtheit prangern wir von Beginn an an.

Klar haben auch Exciting Commerce, Kassenzone und Carpathia (für die Schweiz) mittlerweile viele Leser. Natürlich melden sich neben Gerrit Heinemann, Kai Hudetz und den Verbandsvertretern auch Johannes Altmann, Peter Höschl oder Marcus Diekmann regelmäßig zu Wort. Doch dringen progressivere Online-Verfechter und ausgewogenere Stimmen der E-Commerce-Branche in der breiteren, öffentlichen Wahrnehmung kaum durch.

So konnte die Hudetzifizierung der Branche in den letzten Jahren absurde Dimensionen annehmen, so absurd, dass sich mittlerweile selbst gemäßigte und zumeist auf Ausgleich bedachte Stimmen nicht mehr zurückhalten können und auf die Auswirkungen und auf die Gefahren hinweisen („Die Weltuntergangspropheten des E-Commerce“):

hudetzifizierung

„Jetzt mal ganz ehrlich – wenn der ECC diese These aufstellt, ist das eine Sache. Wenn andere – aus welchen Gründen auch immer – auf diese These verweisen, ist das auch eine Sache.

Wenn jetzt aber Lolek und Bolek, Hinz und Kunz dies als ihre Weisheit verkaufen, wird es für mein Empfinden gefährlich.

Denn dann scheint dieses spekulative, mögliche Szenario wieder einmal zur unumstößlichen Wahrheit zu werden. Genauso wie die angebliche uneinholbare Übermacht Amazons.“

Siehe auch Einspruch: Amazon wird schon bald 100% Marktanteil in Deutschland haben!

Dabei geht es gar nicht darum, dass das ECC/Institut für Handelsforschung seine zweifelhaften Thesen und vermeintlichen Erfolgsrezepte nicht verbreiten dürfte („90 % der reinen Online-Händler werden nicht überleben„).

Wichtig ist nur herauszustellen, dass es sich beim Institut für Handelsforschung genauso wenig um eine unabhängige und marktneutrale Instanz handelt wie beim bevh, beim HDE oder anderen Branchenorganisationen.

Das IFH Köln sieht sich als Diener des alten Handels, müht sich in seiner Rolle redlich, hat aber alleine dadurch eine entsprechend beschränkte Sicht auf die Dinge. Schon bei Quelle und Neckermann hat man sich grob verschätzt und seitdem leider wenig dazugelernt.

Beim Tengelmann eDay kann man jedes Jahr gut verfolgen, wie weit das „Institut für Handelsforschung“ in seinen Brancheneinschätzungen den tatsächlichen Online-Entwicklungen hinterherhinkt.

Fast kann man froh sein, dass man mittlerweile schon zu Amazon vorgedrungen ist. Doch von der Online-Vielfalt, der Fülle der Geschäftsmodelle, von den mobilen Entwicklungen, etc. ist in der IFH-Welt noch nichts angekommen. Selbst das neue Zalando nicht.

Erfreulicherweise jedoch ist der eDay so gestaltet, dass viele der IFH-Thesen und -Einschätzungen im folgenden relativiert werden. Siehe Globaler denn je: Das war der Tengelmann eDay 2016 und Zuversichtlicher denn je: Das war der Tengelmann eDay 2015.

Leider ist dies bei vielen anderen Veranstaltungen nicht gegeben. Und alleine das IFH Köln verbreitet seine Thesen auf über 200 Veranstaltungen im Jahr. Die mediale Omni-Präsenz noch nicht eingerechnet.

Im Grunde jedoch muss sich jeder Veranstalter und jede Publikation selber überlegen, ob und wieviel Raum sie den reaktionären Kräften der Handelsbranche einräumt, ob sie der IFH/HDE/EHI-Linie uneingeschränkt folgt und oder ob sie nicht besser für ein ausgewogeneres Meinungsspektrum sorgen will.

Denn auch wenn gerade viele – mal mehr, mal weniger fundiert – versuchen, Zukunftsszenarien für die Branche zu entwickeln. Die Wahrheit hat niemand gepachtet. Und natürlich kann man über die Zukunft des Handels trefflich streiten („Brand Eins: Wenn sich zwei über den Handel von morgen streiten„).

Mehr zum Thema auch in den Exchanges #111 („Professionalisierungssprünge im Online-Handel„), in den Exchanges #124 („Mythos Amazon„) und in den Exchanges #106 („Die unsichtbaren Händler„).

Frühere Beiträge zum Thema:



Kategorien:Uncategorized

1 Antwort

  1. Der beste Artikel seit langem! Ich finde es ernüchternd, dass sich in der e-Commerce Welt nun mehr und mehr die kritisch, typisch deutsche Negativeinstellung durchsetzen soll. Hersteller sterben, Großhändler sterben, Marken sterben… Alle Marketingarten und jedes gute Unternehmen wurde bereits Todgesagt.

    e-Commerce Berater, Institute und Analysten sollten sich nicht zu wichtig nehmen und zu allen Themen weise Thesen abgeben. Sie sollten sich auf ihre Kompetenzen konzentrieren um Mehrwerte und Wissen zu schaffen, die den Unternehmern helfen ihr Business noch erfolgreicher zu machen. Was wir brauchen sind inspirierende Unternehmer, schillernde Spinner und Web Freaks. So gerne lesen wir die Bücher von Richard Branson, Elon Musk, Steve Jobs und über Jeff Bezos und können es wohl selbst kaum glauben. Da muss doch ein Haken sein, das wird sicherlich alles bald enden…

    Das deutsche Internet wird gerne totgeredet und sachlich in die einzelnen Bestandteile zerpflückt. Deshalb muss man für Kongresse künftig noch mehr auf Speaker aus dem Ausland setzen, weil hier keiner mehr was Positives zu sagen hat.

  2. Die Kritik verstehe ich, sie ist auch zutreffend. die Dringlichkeit nicht. Könnte es sein, dass die Ecommerce-Medien stärker wahrgenommen werden wollen? Ich habe mit der Unterschätzung des Ecommerce kein Problem, unterschätzt kann man freier und besser agieren. Und totgesagte leben eh länger.

    • das glaub ich. Für Informierte und viele Online-Profis sind derlei Thesen auch kein Problem. Man weiß ja, woher es kommt.

      Spätestens aber, wenn die Bank mit derlei Ansichten bei der Kreditvergabe kommt, wirds bedenklich/gefährlich … darauf zielte Peter Höschl ja mit seiner „Hinz und Kunz“-Argumentation

  3. Einverstanden. Hatte genau solche Bemerkungen bei einem Bankgespraech ( kann man doch nicht online verkaufen) schon wieder verdrängt… Das gegenseitige Unverständnis ist dann schon fast absurd;-)

  4. Na da sitz ich entspannt am Sonntag Abend am Rechner und dann das hier. Ich gebe Dir Recht Jochen, dass es an der Zeit ist, dass sich die Onliner mal wieder die Lufthoheit im Deutungskampf zurück holen sollten. Oder aber zumindest zu einer differenzierten Wahrnehmung der aktuellen Marktentwicklung aktiv beitragen und darauf einwirken sollten. Das Schlimme ist, dass sich die Hudetzkis dieser Welt mit wirren Zahlenkolonnen auf 200+ Bühnen pro Jahr hinstellen und wilde, nicht zu belegende Thesen auf das gemeine Handelsvolk niederregnen lassen. Alleine am 2016er Tengelmann eday waren Zahlentapeten und Aussagen nicht nur inhaltlich nicht überein zu bringen, sondern schlichtweg falsch.

    Etwas unglücklich finde ich aber auch, wenn in der aktuellen brandeins Alexander Graf in „leidergeschlossen.de“ allen Händler unter EUR 400-500 Mio Umsatz Schwierigkeiten prophezeit. Da wird sie leider bedient, diese deutsche Alles oder nichts-Sicht; Das deutsche Handelskaninchen erstarrt vor der Schlange amazon. Denn das setzt mal wieder daran an, dass wir die Vergangenheit einfach fortschreiben – ohne Innovationen oder strategische Sprünge, die es in den letzten Jahren zuhauf gegeben hat. Zugegeben, Alexander differenziert dann sehr schön zwischen Herstellern und Händlern und zeigt Wege aus der Abhängigkeit auf. Das Interview endet auf der Note, dass die stationären Aktivitäten der Onliner dem Primat von Marke & Service zuzuordnen sind.

    http://www.brandeins.de/archiv/2016/das-neue-verkaufen/alexander-graf-im-interview-online-ist-zukunft/

    Ja, das Thema ist komplex, vielschichtig und gemein dynamisch. Aber gerade vor diesem Hintergrund bin ich völlig bei Hannes Altmann, dass der Auftrag der sogenannten Experten nicht Panikmache sondern der konstruktive Dialog, das Augen- und Türen öffnen sein sollte. Immer vor dem demütigen Hintergrund, dass kaum einer von den von Dir genannten Experten auch nur eine dieser Kisten bisher selber gegründet und hochgezogen hat!

    Übrigens auch lesenswert, aber leider online noch nicht freigeschaltet, ist das Interview mit Ralf Kleber, amazon Deutschland Chef seit 1999. Dort gibt er zu, dass amazon eine Infrastruktur baut, eine Art Autobahn, die sie vermarkten wollen und andere sinnvoll nutzen können (surprise surprise). Soll man als Händler oder Marke also gleich aufgeben oder mit dem Strom mitschwimmen?

    Die zentrale Frage für mich lautet: wie kann man den Handel der Zukunft nicht trotz sondern mit den vorherrschenden Nebenbedingungen wie amazon, mobile user interfaces, facebook/instagram&Co etc. aufbauen und nachhaltig betreiben? Fertige Antworten darauf habe ich nicht, aber eine Menge Ideen und Ansätze. Ob die alle klappen? Keine Ahnung – aber fragen wir doch Kai Hudetz & Co ;)

    • psst, Omni-Channel heißt das Zauberwort ;-)

      Das ist das große Verdienst der Brand Eins, dass man dort – im Unterschied zu den meisten anderen Publikationen – keiner Doktrin anhängt, sondern sich ernsthaft bemüht, ein differenziertes Bild zu vermitteln – und inzwischen jedes Frühjahr einen Handelsschwerpunkt bringt, der vielerlei Facetten abdeckt. Auch generell berichtet keine Publikation seriöser und vorurteilsfreier über Online-Entwicklungen. Das kann man gar nicht groß genug herausstreichen.

      Auch wenn ich beileibe nicht in allen Punkten bei ihm bin, fand ich gerade das Interview mit Alexander Graf sehr spannend und lesenswert, weil er sehr nachvollziehbar und schlüssig argumentiert.

      Ich finde, wir brauchen eine lebhafte Debatte darüber, wie der Handel von morgen aussieht. Und wie im Beitrag erwähnt, haben wir auch genügend, die nicht nur nachplappern, sondern sich intensiv mit den Entwicklungen auseinandersetzen und dabei – je nach Temperament und Ausrichtung – unterschiedlichste Perspektiven bieten.

      Für meinen Geschmack dürften es allerdings auch noch ruhig ein Dutzend mehr sein, damit wir ein sehr viel breiteres Meinungsspektrum bekommen als wir das heute haben.

  5. Hi Jochen, na hier geht es ja mal zur Sache… :-)
    Als wahrscheinlich einer der älteren Onliner der Branche melde ich mich dann doch auch mal zu Wort.

    Wir haben ja mit den großen strategischen Debatten der Experten weitestgehend nichts zu tun, unser tägliches Brot sind abertausende KMU Händler, Importeure und Hersteller, die fast alle im Bereich unter 100 Millionen EUR Außenumsatz zu finden sind.

    Welche Themen diskutieren wir denn mit diesen Händlern?

    1. Kleinere online Pure Player
    Diese Händler sehen sich einerseits täglich von der Vertikalisierung der Marken und Hersteller bedroht, die nebenbei versuchen über Vertriebsverbote oder ausbleibende Warenlieferungen den Markt „rein“ zu halten.

    Gleichzeitig steigt die Abhängigkeit von Ebay und Amazon, denn da kommt eben die Musik beim Umsatz her, begleitet von der Erosion der realen Margen. Als Händler von Drittmarken landet eben der in der Buy Box, der es ganz zuverlässig am billigsten macht.

    2. kleinere stationäre Händler
    Überraschung, die Themen sind ähnlich wie bei den onlinern, hier lässt die Frequenz in der Fläche nach und nicht die des eigenen online Shops. Personal- und Mietkosten bleiben aber bestehen. Die Absatzmengen je Produkt sinken, meist sogar übers ganze Sortiment gesehen, bei gleichzeitiger Erosion der realen Margen.

    Marken neu ins Sortiment zu nehmen hilft häufig auch nicht, denn sind diese zugkräftig, dann werden Verträge mit Kanalbeschränkungen – ach nee, immer ohne Beschränkung des Vertriebskanals – und natürlich ohne Druck vom Außendienst wegen der UVP Einhaltung und natürlich ohne Marktplatzverbot abgeschlossen.

    3. Importeure und Private Label Lieferanten
    Viel Kompetenz im Produkt und der Beschaffung, aber keine eigene Sichtbarkeit. Vielfach wenige Filialisten und stationäre Ketten/Discounter als Kunden, die die eigene E-Commerce Bestrebungen solcher Anbieter mit der Androhung der Auslistung beantworten. Die Absatzmengen je Aktionsartikel (für stationäre Vertriebsformen) sind häufig auch rückläufig, me too Produkte leider auch an der Margen Erosion.

    Was soll das jetzt heißen?

    Also mein Eindruck ist folgender: 90% dieser Händler brauchen keine Experten, um zu realisieren, dass ihr traditionelles Geschäft bedroht wird. Die Bedrohung erkennen sie jeden Monat immer wieder in ihrer BWA.

    Wir hatten jetzt viele Jahre in denen der Handel von seinem Polstern gezehrt hat, es wurde alles schlechter, aber die Komfortzone bestand noch. Sicherlich hätten viele schon viel früher die Weichen in Richtung Zukunft stellen sollen, haben sie aber nicht getan. So eine Headline vom ECC fungiert hier sicherlich auch als Weckruf und genau dafür ist sie auch gut.

    Neuerdings müssen sich Händler den Themen „richtig Einkaufen statt 2x im Jahr listen und dann nur nachdisponieren“ stellen. Onliner fragen sich, wie sie praktisch aus der Margen-Falle auf Marktplätzen rauskommen und stationäre brauchen auch mehr Umsatz und mehr Marge. Eigene Produkte für eine Absatzmenge von 250 Teilen pro Jahr lohnen aber nicht – also braucht es Reichweite und Potential.
    Müssen jetzt alle Händler lernen eigene Produkte zu entwickeln? Woher soll denn diese Kompetenz kommen und warum zum Teufel sollten diese Neuentwicklungen keine Flop-Rate von 90%+ besitzen?

    Und woher sollen die tausenden qualifizierten Mitarbeiter auf einmal kommen, die jetzt benötigt werden, denn statt Kassierern, Lageristen und Waren-Verräumern werden jetzt Kompetenzen in der Steuerung von E-Commerce Aktivitätem gebraucht, es werden Produktmanager benötigt, die die Beschaffung und Marktkonformität von vielleicht 10-20 Nischenartikeln sicherstellen können und natürlich Inhaber, die eben diese Herausforderungen erkennen.

    Wie gefährlich sind diese Thesen also?

    Ich denke für viele KMU waren sie nötig, damit der Ernst der Lage erkannt wird!
    Wer sein Geschäftsmodell nicht modifiziert/modernisiert sieht sich wachsenden wirtschaftlichen Problemen gegenüber stehen. Eine solche ECC Aussage sollte keine Depression auslösen, sondern den Impuls der Veränderung darstellen, weg vom auswechselbaren logistischen Erfüllungsgehilfen für Drittwaren, hin zum Händler mit Kompetenz. Wie viele das schaffen…? Das beurteilst Du am besten am 13.03.2020.

    Beste Grüße
    Stefan Grimm

  6. Unsere Branche – genauer gesagt die Experten, Analysten und auch das technische Personal – scheint mir recht anfällig für Grabenkämpfe zu sein: Während auf der einen Seite Vertreter der verschiedenen Shop-Systeme sich über das beste Produkt in Rage reden, fechten auf der anderen Seite die Onliner ihre Scharmützel mit den Omnichannelern aus.

    Händler und Marken, die fleißig und mit Nachdruck ihre langfristig ausgelegte Strategie in die Tat umsetzen, sind erfahrungsgemäß weitgehend immun gegen derartige Polemik. Problematisch wird es nur bei denjenigen, die mutlos einer me-too-Strategie folgen (müssen) und sich eher von Buzzwords und Generalisierungen leiten lassen.

    Dabei wissen wir doch alle, dass es primär darum geht, dem Kunden das Einkaufen so unterhaltsam, inspirierend, zeitsparend, etc. zu machen wie möglich – egal, ob dieser dabei sein Laptop, sein Smartphone, sein Faxgerät nutzt oder er in ein Geschäft, auf einen Markt oder in ein Kaufhaus geht (oder doch eher einer Kombination bewusstseinserweiternder Drogen und Hirnstromscannern vertraut, wer weiß was die Zukunft bringt). Wie auch immer, es bleibt eine Einzelfallentscheidung.

    Noch ein Satz zu Alexander’s Artikel in der Brandeins: Ich musste schon schmunzeln, als er die Offline-Aktivitäten der Pureplayer unter „Service“ verbucht, somit eine Definitionsverschiebung vornimmt und den Omnichannelern damit ihr bereits sicher geglaubtes Argument vor der Nase wegnimmt. Merke: Aussicht auf Erfolg hat eine solche Diskussion nur, wenn man sich auf die grundlegenden Begrifflichkeiten einigen kann.

    • ich finde es immer bedauerlich/bedenklich, wenn unterschiedliche Positionen per se als “Grabenkämpfe” defamiert werden. Wir brauchen Debatten und widerstreitende Meinungen, etc. gerade in Umbruchphasen.

      Natürlich machen große Koalitionen und Einheitsmeinungen das Leben leichter. Sie lösen aber keine Probleme. Gerade ein Alexander Graf bringt die Branche mit seinen alternativen Perspektiven extrem weiter, weil er mit den neuen Begriffen/Argumenten dem Denken eine neue Stoßrichtung gibt.

      Je nachdem, wie offen man dafür ist, kann man der Argumentation folgen und sich auf den anderen Blickwinkel einlassen oder sich auf die Position zurückziehen, das ist doch alles nur alter Wein in neuen Schläuchen.

  7. Als ich den Artikel begann zu lesen hab ich gedacht, die Thematik sei reichlich theoretisch, aber der Artikel hat mich gepackt, als es um die Wahrnehmung der Branche in der alten Welt geht, insbesondere bei Kapitalgebern & Banken. eCommerce hat zum einen einen unglaublich schlechten Ruf, weil es das Paradies aus Papier und Ladengeschäften angeblich zerstört. Und bei Banken, weil es so unglaublich unrentabel sei. Bei unserer Bank sind wir z.B. per se in ein Risikocluster gefallen, nur weil wir angeblich eCommerce betreiben. Die Suche nach Finanzierungen hat erst dann Fahrt aufgenommen, als wir mühsam Alternativbegriffe gefunden haben um (auch richtigerweise) zu sagen, das wir im Grunde gar kein eCommerce machen. Aber jetzt weiß ich immerhin, wo diese Wahrnehmungen herkommen :-)

    Ich sehe in der Tat eine zunehmende Zuspitzung auf Fundamentalthesen rund um den Onlinehandel, die deswegen immer hinken müssen, weil jede Branche und jeder Player andere Umweltbedingungen haben. Was hier gut ist, kann dort eine Katastrophe sein. Wer den ihn nahe stehenden Industrien vorgaukelt, es gäbe Pauschalrezepte für eCommerce, macht sich vor allem pauschal unglaubwürdig und mir tun alle die leid, die dem nachhängen und glauben, es würde schon alles gut werden. Das hat ja schon was von amerikanischen TV-Predigern.

    Aber es zeigt eben auch, dass die eCommerce-Welt schlecht organisiert ist. Das zeigt sich bei TV-Debatten über den Online-Handel, Gesetzesentwürfen, etc. Eine starke Stimme der Vernunft sehe ich nicht, so dass m.E. das Problem auch ein stückweit hausgemacht ist.

  8. Jochen, vielen Dank für den Anstoß und das Thema dieser Diskussion und auch ein Dank an die Kommentare aus unterschiedlichen Blickwinkeln!!
    Um deinem Aufruf nach lebhafter Debatte nachzukommen, auch von mir ein paar kritische Anmerkungen, im Detail zum aktuellen 5-Minuten Video vom IFH vom 08.03.2016 ( https://www.youtube.com/watch?v=ltN3kQ8NVqs ), die bitte in der Sache verstanden sein wollen. Nur aus einem kritischen Austausch kann etwas gutes entstehen!

    Kurz vorweg:
    @Debatte vs. Grabenkämpfe
    Konträre Meinungen sind doch gut, wenn Sie sich ergeben. Ich sehe hier auch keine Grabenkämpfe.

    @Begrifflichkeiten vs. Deutung
    Ich gebe Roman recht, dass unterschiedliche Begrifflichkeiten eine Diskussion ganz allgemein ins Nirwana führen lassen können. Die Begrifflichkeit „Service“ im Kontext E-Commerce an sich ist aber aus meiner Sicht hier nicht die Ursache der Diskussion. Es bestehen schlicht unterschiedliche Deutungs-Richtungen der aktuellen Offline-Aktivitäten von Amazon und Zalando, was ja grundsätzlich kein Problem der Begrifflichkeit darstellt.

    Die Aussage von Alexander Graf „Aber das ist kein Handel, das ist Service“ über die aktuellen offline Aktivitäten von Amazon und Zalando enthält eine Einschätzung darüber, mit welcher Zielsetzung die stationären Aktivitäten dieser Beiden erfolgen und die Einschätzung, dass sie dies aus logistischen/ Service-Gesichtspunkten tunt ist doch völlig legitim.
    Die Meinungsverschiedenheiten drehen sich um die Frage, wie die „Offline-Aktivitäten“ von Amazon und Zalando gedeutet werden können. Am besten sollte man sie direkt fragen! ;)

    An der Stelle möchte ich konstruktiv kritisch auf das oben erwähnte Video und die Thesen eingehen, da mich diese sehr beschäftigen…

    2014 wurde vom IFH die These formuliert „90 % der derzeitigen, reinen Online-Händler werden bis 2020 nicht überleben.“, auf die nochmal im aktuellen Video eingegangen wird.

    Für mich schwingen die folgenden Thesen und Relativierungen der 2014er-These im aktuellen Video mit und mich würde es sehr interessieren, wie ihr konkret die Aussagen im Video interpretiert.

    „WIR WERDEN DANN ABER AUCH ERKENNEN, UND IN DEN USA IST ES JA SCHON ANGEKÜNDIGT, DASS AMAZON STATIONÄR DORT EIN BISSCHEN AUCH GRÖSSER DENKT, DASS MAN SICH EHER FRÜHER ALS SPÄTER MIT DIESEN THEMEN [GEMEINT IST CROSS CHANNEL] BESCHÄFTIGEN SOLLTE.“
    Hier wird Amazon in der Vorbild-Funktion für stationäre Aktivitäten genannt. Amazon ist aber eine Plattform/ Infrastruktur/ Marktplatz und kann meiner Meinung nach hier nicht als passendes Vorbild für Online Pureplayer dienen.
    Wenn Amazon in Deutschland demnächst ein flächendeckendes „Store-Netz“ zur Erweiterung der Handels- und Logistik-Infrastruktur aufbaut, um seine Amazon-Marketplace-Händler in Kombination mit dein eigenen Amazon (Fulfillment-)Services näher an stationär einkaufende Kunden zu rücken (z.B. zur Neukundengewinnung), dann macht es selbst für die größten Online-Pureplayer wirtschaftlich keinen Sinn, es Amazon gleich zu tun, da diese eben kein Plattform/ Infrastruktur-Modell verfolgen.
    Sicherlich können nicht alle Offlineaktivitäten von Onlinern als Service eingeordnet werden; aber Amazon wird in diesem Zusammenhang vom IFH sozusagen als „Proven Winner“ angeführt.

    Sinngemäß: BEREITS DAS BLOSSE ABHOLEN VON WARE IN PICK-UP-STATIONEN IST EIN CROSS CHANNEL KONZEPT!
    Wann hört Pureplay auf und wo fängt Cross Channel an? Diese Frage ist in der ganzen Diskussion Omnichannel vs. Pureplay offensichtlich von entscheidender Bedeutung.
    Eine zur reinen Übergabe von online gekauften Produkten dienende Einrichtung ist – meiner Meinung nach – lediglich eine Weiterentwicklung von Post-Filialen und DHL Packstationen. Und diese sind wiederrum nur eine Weiterentwicklung des Postboten. Es geht um Zustell-Logistik. Die Begrifflichkeit „Service“ sollte am Hauptzweck Vertriebskanal, Lieferlogistik oder eine Kombination aus beidem festgemacht werden.
    Packstationen sind kein Cross-Channel Vertriebskanal, sondern dienen rein logistischen Zwecken.
    Wenn eine reine Übergabestation von online erworbenen Produkten als Cross-Channel Lösung bezeichnet werden kann, dann – überspitzt formuliert – ist die physische Auslieferung von Ware durch DHL & Co auch bereits ein Cross-Channel-Modell.

    Sinngemäß: STATIONÄR KANN MAN ZUSÄTZLICH DIE MARKE AUF BAUEN UND ZUSATZSERVICES ANBIETEN, DIE ONLINE NICHT REALSIERBAR SIND
    Uneingeschränkte Zustimmung

    Sinngemäß: NUR WENN ONLINEHÄNDLER AUCH STATIONÄR AKTIV SIND, KÖNNEN SIE ÜBERLEBEN, D.H. CLEVERE STATIONÄRE KONZEPTE FÜHREN ZURÜCK ZUR WETTBEWERBSFÄHIGKEIT.
    Ein steigender Anteil unserer Nutzer und Kunden kommt aus dem stationären Umfeld. Online ist für viele aus ihrer Sicht die einzige Hoffnung, durch größeren Absatz überleben zu können. Der umgekehrte Weg, d.h. den stationären Verkauf als den Königsweg für PurePlay-Händler zu beschreiben, kann aus meiner beruflichen Sicht nur in Einzelfällen und engen Geschäftsmodell-Nischen – Stichwort MyMuesli – sinnvoll sein. Für die große Mehrheit, der auch kleinen Onlinehändler, kann dies aber kein erfolgreich zu beschreitender Lösungsweg sein. Ich teile Stefans Ansicht der zu erwartenden hohen Ausfallquote, weil einfach zu viele Grundlagen (aus der Praxis) fehlen.

    „WIR WERDEN NATÜRLICH KEINE BEREINIGUNG SEHEN, IN DER FORM SEHEN, DASS ES WENIGER ONLINEHÄNDLER GIBT, WIR WERDEN ABER DANN SICHERLICH VIELLEICHT EINEN SHIFT-IN DEN GESCHÄFTSMODELLEN SEHEN.“ > „WHAT WE SEE IS THE END OF PUREPLAY“.
    Ich formuliere nochmal überspitzt, dass die Aussage klar wird: Mich erinnert der erste Satz an die, ab und an geänderte Definition der Arbeitslosenquote. Übertragen: Plötzlich nutzt ein Onliner einen Pick-Up-Stations-Service und schon ist er raus aus der Statistik und die Welt hat einen PurePlay-Onlinehändler weniger.

    „WIR SEHEN JA VON MYMUESLI BIS MR. SPEX, DASS LETZTLICH AUCH UNTERNEHMEN DIE ALS REINE PUREPLAYER GESTARTET SIND UND VON DENEN MAN GEMEINT HAT SIE HABEN WIRKLICH EINEN GANZ KLAREN ONLINE-KERN, DASS SIE JETZT IN STATIONÄRE GESCHÄFTE UNTERSCHIEDLICHER ART UND WEISE INVESTIEREN.“
    Mymuesli und Mr. Spex sind Erfolgsbeispiele. Aber dienen sie auch als Muster-Beispiele für die breite Masse der Online-Pureplayer? Ob dies ohne die Betrachtung der jeweiligen Sortimente bejaht werden kann, muss jeder Händler selbst bewerten.

    Dass Notebooksbilliger in Deutschlandweit seit Start 2010 aktuell nur 3 und nicht 10 oder 20 Filialen betreibt, kann meiner Meinung nach als starkes Indiz gewertet werden, dass die Eröffnung von stationären Stores kein Bringer von signifikantem, vertrieblichen Wachstums ist.
    Notebooksbilliger-Zitat: „Wir wollen nur Filialen, die wirtschaftlich arbeiten.“ Aber auch in der Argumentation von Notebooksbilliger schwingt der Begriff „Service“ über die Begriffe „kürzere Wege“, „großes Lager“ und „Same-Day-Delivery“ mit.
    http://www.channelpartner.de/a/wir-wollen-weg-vom-nachfrageorientierten-geschaeft,3047171,2

    Negative vs. positive Stimmung
    Aus meiner Sicht ist es notwendig und sinnvoll auf die aktuellen und zukünftigen, auch in den Kommentaren genannten Bedrohungen (Amazon, Alibaba, usw.) für Händler aber auch für Hersteller hinzuweisen. Aber undifferenziert (unterschiedliche Händlergrößen!) ausgesprochene oder provozierende Thesen besitzen leider einen überproportionalen Verbreitungsgrad und verleiten damit Händler zu unüberlegtem Aktionismus und führen in vielen Fällen zu Fehlentscheidungen (unsere Erfahrung aus der Praxis).

    Meine These bis zum Jahr 2020 ist daher, dass weniger als 10% aller Online-Pureplayhändler (über alle Unternehmensgrößen hinweg) eine stationäre Strategie einschlagen werden und sich die Anzahl der Händler gleichzeitig um nicht mehr als 20% reduziert.

    @heypaula – Schlechte Organisation der eCommerce-Welt
    Ca. 45% des Online-Handelsvolumens in Deutschland liegen bei Amazon. Amazon wäre für sinnvolle Lobbyarbeit prädestiniert. Aber anstatt sich in öffentlichen, politischen Diskussions- & Talkrunden aufzureiben, wird still und heimlich die eigene Infrastruktur und der Bezos-Masterplan global vorangetrieben. Bleibt aktuell nur die Hoffnung auf die Verbände…

  9. davon abgesehen könnte man sich ja auch mal fragen, warum so ein Frontalangriff auf den Online-Handel just in dem Moment erfolgt, da man 30% des stationären Handels zur Disposition stellt:

    http://www.wiwo.de/unternehmen/handel/e-commerce-90-prozent-aller-reinen-online-shops-werden-nicht-ueberleben/9893008.html

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