bvh-Zahlen ’09: E-Commerce ist weit mehr als Versandhandel

Einen der schlimmsten Fehler, den Online-Händler heute machen könnten, wäre, sich selber als Versandhändler zu begreifen. Damit würden sie sich aller Zukunftschancen berauben. Denn E-Commerce ist schon heute weit mehr als Versandhandel. Und wohl kaum einer der Pure Player im elektronischen Handel würde sich selber als Versender definieren. Die meisten sehen sich am ehesten noch als Dienstleister.

Interessant ist dieser Punkt, weil sich der deutsche Versandhandelsverband (bvh), für den noch vor drei Jahren nur als Versandhändler galt, wer einen Katalog verschickt, zu einer gewagten These hinreissen ließ. "Jedes Unternehmen, das im Internet Handel betreibt, ist ein Versender", meinte bvh-Sprecher Dieter Junghans kürzlich bei der Vorstellung der Jahresprognose, nur um wenig später auszuführen, dass der Verband künftig auch die Handelsumsätze für eBooks, Musik-Downloads, Konzert- und Urlaubstickets ausweisen will.

Elektronischerhandel

Diese Aussagen könnten das Dilemma kaum besser verdeutlichen, in dem die Branche heute steckt: Der elektronische Handel befindet sich in einer Art Niemandsland. Denn der kataloggetriebene Versandhandel erweist sich online als nicht nachhaltig und löst sich mehr und mehr in Luft auf. Und der elektronische Handel, will man ihn in seiner ganzen Tragweite erfassen, lässt sich längst nicht mehr rein auf den Versandhandel reduzieren.

Die Strukturen wandeln sich

Wir beobachen einen Strukturwandel nicht nur im Versandhandel, sondern im gesamten (Einzel-)Handel. Und Strukturwandel heißt in diesem Fall tatsächlich, dass sich die bekannten Strukturen verändern. Es sind nicht bloß graduelle Marktanteilsverschiebungen (von einem Vertriebskanal zum nächsten), wie es uns (Multi-)Channel-Verfechter und Handelsverbände (bvh oder HDE) so gerne suggerieren. Der Markt richtet sich komplett neu aus und zwar in noch nicht bekannter Richtung.

Was also tun? Um Marktentwicklungen einschätzen und Märkte aktiv gestalten zu können, braucht es Orientierungspunkte. Der Branchenverband BITKOM unterscheidet in seinem Praxisleitfaden E-Commerce (PDF) zwischen E-Commerce und Classic Commerce und schreibt:

"Es gibt nicht „das“ eine Geschäftsmodell für E-Commerce, sondern eine Vielzahl von für E-Commerce geeigneten Kombinationen aus Produkten/Leistungen mit Liefer-/Leistungsbeziehungen."

Auch bei Exciting Commerce orientieren wir uns deshalb vornehmlich an Geschäftsmodellen als Treiber für neue Märkte. Dies können die für die frühen E-Commerce-Tage typischen (Shop- und Katalog-)Konzepte sein, wie man sie von Amazon bis Zooplus kennt, oder die zunehmend komplexeren, nachfragegetriebenen Modelle, wie sie QVC, Vente-Privée, Woot!, Threadless, Zazzle/Spreadshirt und andere vorantreiben.

Angebotsgetriebene vs. nachfragegetriebene Handelskonzepte

Spannend ist zu sehen, welche Marktbedeutung alleine die Konzepte in den versandhandelsnahen (=gelben) Bereichen innerhalb von nur zehn Jahren erlangt haben, obwohl die Ebay-Erfolge in den offiziellen Statistiken von bvh & Co. nach wie vor klein gerechnet werden. Und versandhandelsferne Bereiche (wie iTunes & Co.) in den E-Commerce-Statistiken der (Handels-)Verbände noch nicht auftauchen.

Was ist eigentlich elektronischer Handel? Das ist immer noch die große Frage. Und das eigentliche Problem liegt in der Datenerhebung: Wie lassen sich die Daten so erfassen und strukturieren, dass sich daraus Entwicklungstendenzen auch jenseits der in der Vergangenheit üblichen Markt-Raster ableiten lassen?

Schließlich gibt es inzwischen eine ganze Reihe von elektronischen Handelskonzepten, die komplett offline arbeiten. Moderne Einzelhandelskonzepte wären ohne elektronische Vertriebssteuerung kaum möglich. Wer schon einmal erlebt hat, wie beispielsweise in Londoner Supermärkten über Nacht das gesamte Warensortiment quasi einmal komplett ausgetauscht wird, der weiß, was elektronischer Handel möglich macht.

Was zeichnet elektronischen Handel aus?

Aus unserer Sicht ermöglicht elektronischer Handel zweierlei: eine bisher nicht gekannte Nachfrageorientierung (1) und eine extreme Vernetzung sämtlicher Produktions- und Vertriebseinheiten (2). Die Folge sind zunehmend schnellere, nachfrageorientierte Verkaufskonzepte, die vernetzt gesteuert werden.

Die besten Handels- und Vertriebsmodelle sind zunächst einmal medienneutral und geräteunabhängig. Wer daher in überkommenen Versandhandelsstrukturen denkt und/oder das Internet, TV oder Mobile nur als (Vertriebs-)Kanäle begreift, der beschneidet seinen Markt künstlich – und wird im Zweifel dann auch noch in zehn Jahren nicht über zukunftsfähige Geschäftsmodelle, sondern über eine "Zerreissprobe zwischen Katalog und neuen Medien" debattieren.

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Kategorien:Shopboerse

1 Antwort

  1. Leider beschränkt man sich mit jeder Form von Definition künstlich, da man bei Definitionen willkürlich irgendwelche Grenzen setzt – man könnte sie auch anders setzen (wo fängt bspw. eine Hand an, wo hört sie auf? Gehören die Adern und Muskeln zur Hand, oder nicht? Alles künstlich und letztendlich willkürlich von irgendwem festgelegt). Dann kommt eines Tages die Zeit, wo die künstliche Beschränkung nicht mehr ausreicht und man diese dann erweitern muss und sei es wie im Falle des bvh, dass man das Handeln und Versenden von Daten-Paketen auch als Versandhandel begreift, um nicht „schöpferisch zerstört“ zu werden. Ein ganz normaler Prozess… Auch bei der Definition von „Elektronischem Handel“ legt man sich somit künstlich in Ketten. Sind smarte Local-Based Handy-Apps, die den stationären Handel stützen nun Elektronischer Handel oder nicht einfach Multi-Channel und vollkommen egal. Hauptsache man nutzt als Händler die einem zur Verfügung stehenden Wege. So erspart man sich bei allen Erfolgsrechnungen auch die Problematik der Zuordnung, ob es sich bei einem Sale nun um einen Katalog oder sonstwie induzierten handelt oder ein „reiner“ E-Commerce-Sale. All diese Definitionen zerteilen künstich die Welt in kleinere Stücke und hinterher muss man sich dann fragen, wie diese Stücke nun zusammen passen (und rechtfertigen – Mein Kunde – Dein Kunde mit all den damit verbundenen künstlichen Streitereien und Steinen, die man sich selbst in den Weg legt), anstatt gleich das große Ganze zu sehen… Alles im Allen also ein rein sprachliches Problem, welches wir uns künstlich auferlegen und von dem wir uns all zu oft blenden lassen – meist sogar fahrlässig Entscheidungen daraus ableiten.

  2. Eine wirklich brillante Analyse, die ich meinen versender-Kunden wörtlich vorlesen werde, Kompliment!
    Der für mich wichtigste Satz:
    „Die besten Handels- und Vertriebsmodelle sind zunächst einmal medienneutral und geräteunabhängig.“ Denn es macht keinen Sinn, in Medien oder Kanälen zu denken, wenn ich nicht vorher in Zielgruppen, Bedürfnissen, Services und Produkt gedacht habe.
    Und eine Ergänzung zu „Denn der kataloggetriebene Versandhandel erweist sich online als nicht nachhaltig und löst sich mehr und mehr in Luft auf.“ Auch wenn das grundsätzlich richtig ist, darf nicht übersehen werden, dass man mit dem gedruckten Katalog den Online-Umsatz erheblich treiben kann, wenn die Konzepte stimmen. Ein in diese Richtung denkender Versandhandel, der seinen Katalog eben so treibt, kann eine gewisse Überlegenheit gegenüber reinen Online-Wettbewerbern ausspielen. Der Katlog läßt sich zumindest temporär in den nächsten Jahren vom (Kosten-)Klotz am Bein in ein Marketing-Instrument für Multi-Channel drehen. Und wer weiss – vielleicht erzeugt er auch auf Dauer solche positiven Cross-Effekte und wird daher überleben??

  3. Kurzlich war zu lesen dass die großen Versandhändler den gedruckten Katalog in den nächsten Jahr nun wirklich abschaffen wollen. Mir schein in der Wahrnehmung der Medien (Hightext, Internet World Business und Versandhausberater) die Theorie des Long Tail nun im deutsche Versandhandel angekommen zu sein. Die großen Händler setzen also auf Nischenartikel mit höheren Margen.

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