Dino-Debatte: Otto-Chef poltert gegen die eigene Branche

Wer im Glashaus sitzt … Otto-Chef Rainer Hillebrand, die Nr. 2 im Otto-Konzern, sorgt derzeit in der Branche ebenso für Verwunderung wie im eigenen Haus.

Als "Gala der Dinosaurier" soll er jüngst den Versandhandelskongress bezeichnet haben. Im Interview mit der Wirtschaftswoche versucht er seine bewusst provokanten Äußerungen zu entschärfen ("Der Katalog ist unverzichtbar") – und kommt dabei zu erstaunlichen Schlüssen:

"Amazon macht im Grunde nichts anderes als wir."

Bei aller öffentlicher Schönrednerei weiß er hoffentlich am allerbesten, wie sehr dieser Vergleich hinkt. Denn Amazon ist derzeit strategisch besser aufgestellt denn je, während sich der traditionsbewusste Otto-Versand ohne klares Gefühl für die Zukunft seit Jahren in einem strategischen Vakuum bewegt.

Schon lange veröffentlicht Otto keine Zeitreihen mehr zur Umsatzentwicklung. Verständlicherweise. Denn zu deutlich klafft inzwischen die Lücke zwischen Anspruch und Realität: Während Amazon in der Branche den Takt angibt, hat Otto in den vergangenen 10 Jahren schlichtweg den Anschluss verpasst – und ein Umschwung ist nicht in Sicht:

Otto1999-2008
Im laufenden Geschäftsjahr profitiert Otto von einer Reihe von Sondereffekten: Neben der Quelle-Pleite wird die aufwändige Happy-Sixty-Kampagne (mit TV-Spots und kostspieligen Anzeigen auf den Titelseiten der Bildzeitung) für einen Umsatzsprung sorgen, der aber wohl nicht annähernd so hoch ausfallen wird wie zum 50-Jährigen. Schon die Happy 55 Kampagne ist weitgehend verpufft.

Während sich der Otto-Chef nach außen siegessicher gibt, betreibt er intern Schadensbegrenzung: Doch ein eilig eingerichteter Strategiestab für den Einkauf und das anvisierte Mehrmarkenmodell sind solange wertlos, wie sich Otto auf seine desaströse Multi-Channel-Strategie versteift, die schon Quelle geradewegs in den Ruin geführt hat.

Elektronischerhandel

Interessanterweise empfiehlt Rainer Hillebrand seiner Branche, aus ihren "Erfahrungsgefängnissen"
auszubrechen, während es Otto selber ist, das an liebgewordenen Traditionen festhält wie kaum ein anderer.

In Kürze kann Otto deshalb ein ganz besonderes Jubiläum begehen. Denn dann wird der Versender, der eigenen Angaben zufolge 60% seiner Umsätze online macht, zum mittlerweile 25. Mal seinen Internetkatalog millionenfach ausgedruckt als Frühjahr/Sommer-Katalog 2010 an die Kunden versenden.

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Kategorien:Shopboerse, Ultimondo

1 Antwort

  1. Die „Dino-Debatte“ ist ja nicht neu:
    siehe hier („No Country for Old Men“):
    http://www.mailorderportal.de/blog/artikel/article/das-motto-fuer-den-versandhandel-2009.html
    Die Feststellung, dass Amazon auf dem gleichen Markt agiert (nur eben mit andereren Sortimenten; Amazon: hartwarenlastig, OTTO: textillastig) ist es auch nicht. Das Amazon im Internetmarkt die Nase vorn hat, wird auch keiner abstreiten.
    Amazon hatte insbesondere den Vorteil eine grüne Wiese zu bespielen und quasi seine Systemarchitektur den (geänderten) Erfordernissen anzupassen. Wohingegen jeder der die alte Versandhandels-SystemLandschaft kennt, weiss wie stark man da teilweise an den Zuständen der 70er Jahre hängt.
    Der Ausbruch aus den Erfahrungsgefängnissen fällt bestehenden Marktplayern immer schwerer als neu hinzugekommenen. Man muss aktiv loslassen und sich neuen Dingen hinwenden können. Das fällt oft schwer und blockt Ressource, die dann für Innovationen fehlt (auf die sich die neuen Marktteilnehmer stürzen).

  2. Der Hinweis auf die ach so alte Infrastruktur hält sich bereits seit 10 Jahren in der Branche. Dabei ist er sicherlich grundsätzlich richtig – aber mit der üblichen Mischung aus Beibehaltung altgedienter Rechte, keinerlei IT-Strategie und hoffnungslos überzogenen Restrukturierungs-budgets (neues WaWi gefällig? 120 Mannjahre bitteschön) hat sich dahingehend genauso wenig geändert…ebenfalls seit 10 Jahren.
    Und während früher noch Intershop-Systeme an den ERP-Systemen verzweifeln mußten, verzweifeln die Innovationen jetzt auch gleich am Intershop-System. Obs reicht der Hausagentur ein neues shop-system zu beauftragen sei dahingestellt.
    Diese Branche braucht IT-Strategien und Know-How…

  3. Neu finde ich, dass der Anstoß für die Debatte diesmal von Otto selbst ausgeht. Das ist mE schon eine neue Qualität.

  4. Wobei die Verzweiflung an dem Enfinity-System leider auch hausgemacht ist und nicht an dem System liegt. Wenn man dieses auf 7 Jahre alten Betriebsprozessen faehrt, die den Anforderungen einfach nicht mehr gerecht werden koennen, muss man sich auch nicht wundern. Traurig, dass das dann auf die Software geschoben wird, obwohl man es nicht schafft, die Prozesse zu aendern. Kann dem Kollegen weiter oben nur beipflichten, wenn man irgend was auf der gruenen Wiese neu bauen kann, ist das erst mal immer dynamischer, zumindest fuer eine Weile :-)

  5. Naja, Grüne Wiese hat zweifelsfrei Vorteile, aber auch immense Nachteile. Und von daher nicht zwingend von strategischer Bedeutung
    Wenn OTTO Amazon früher ernst genommen hätte, hätten Sie von deren Fehlern lernen und sogar profitieren können. Denn besser gut kopiert als schlecht selbst gemacht. Bestes Beispiel: iPhone & Palm Pre.

  6. Ich glaube das Grundproblem liegt eher bei den Kunden. Es ist ja nicht so dass die Versandhandels-Manager einen schlechten Job machen und damit als Dinos bezeichnet werden könnten. Das große Problem der „Etablierten“ ist die Tatsache, dass der Großteil des Kundenstamms sich aus Leuten rekrutiert, die durch den Katalog zum Versandhandel gekommen sind (und daher Papier als Anstoss gewohnt sind und sich danach auch verhalten).
    Als Manager wäre man daher grob fahrlässig, wenn man dies vernachlässigen würde und plötzlich alle Kataloge einstampft. Der Auftrag zur Bearbeitung des Kundenstammes geht nämlich vom Kundenverhalten aus. Und da hat nun mal der „etablierte Versandhandel“ das Problem eher die „älteren“ Kunden zu haben, wohingegen die Neuen Marktteilnehmer eher von den „jüngeren“ Klienteln leben (die den Katalog teilweise gar nicht kennen bzw. auch gar nicht benötigen). Wobei „jünger“ nicht primär soziodemographisch gemeint ist.
    Diese „jüngere“ Zielgruppe ist auch gewiss die Zukunft des Versandhandels, jedoch weiss jeder der sich mal mit Kundenwanderungen beschäftigt hat, wie lange man ackern muss um einen bestehenden Kundenbestand zu „drehen“ (das dauert Jahre). Von daher ist die aktuelle Marktbearbeitung der „Etablierten“ unter dem Motto zu sehen: „Altes bewahren, Neues antesten“.
    Dieser Spagat ist schwer und man muss die richtige Balance zwischen alten und neuen Ufern finden. Und man beneidet natürlich Unternehmen, die sich nicht mit dem alten „Ballast“ rumschlagen müssen. Stellen wir uns nur einmal vor Amazon müsste seine Kunden mit Katalogen bearbeiten (die Amazon-Manager würden sich auch die Haare raufen).
    Von daher bewahrheitet sich einmal mehr: Es gibt keine schlechten Kunden, es gibt nur Kunden die nicht zum Geschäftsmodell passen. Und die „Etablierten“ haben aktuell dass Problem, dass Sie zu „wenig Kunden“ für ein Internet-Only-Geschäftsmodell analog der Internet-Pure-Plays haben. Oder teilweise diese Anzahl an „neuen“ Kunden im Verhältnis zu den „alten“ Kunden eine deutliche Minderheit darstellen, welche einen Ressourcenshift nur schwer rechtfertigt.
    Damit ist die Veränderungsdiskussion („Erfahrungsgefängnisse“) natürlich keineswegs vom Tisch. Insbesondere unter dem Aspekt des Aufteilens von Marktanteilen muss man strategisch entscheiden, was einem lieber ist: Das Alte bewahren oder auf zu neuen Ufern. Ein sowohl-als-auch ist dabei aber die schlechteste aller Alternativen.

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