Beginnt jetzt die Zukunft des deutschen Versandhandels?

Die Pleite von Quelle ist nur der letzte Beweis: Der deutsche Versandhandel befindet sich in einem absolut desolaten Zustand. Im Denken noch tief in den 70er Jahren verankert, hat er in den vergangenen fünfzehn Jahren den internationalen Anschluss vollends verloren und konnte in keinem einzigen der neuen Zukunftsmärkte Fuß fassen.

Gut zu erkennen beispielsweise am Markt für rein elektronische Handelskonzepte (Online/Mobile/TV), dem wachstumstreibenden Marktsegment schlechthin. Laut bvh-Zahlen hat dieses Segment 2008 ein Marktvolumen von 7,8 Mrd. Euro erreicht und macht inzwischen knapp 28% des gesamten Versandhandelsmarktes aus (dieser Wert wird sich unseren Schätzungen zufolge bis 2017 in etwa verdoppeln.)

Hier kommt die Primondo-Gruppe (durch HSE24 und Myby) auf einen Marktanteil von 5%, die Otto-Gruppe (durch MyToys und Jungstil) auf 1%. Neckermann ist in diesem Zukunftssegment überhaupt nicht vertreten.

Pureplayer2008

Stattdessen bestimmen diesen Markt neben den internationalen Playern (Amazon, Ebay, QVC) unabhängige, börsennotierte Versender wie Delticom, Getmobile oder Zooplus sowie Elektronikversender wie Redcoon oder Notebooksbilliger und eine Fülle von Klein- und Kleinstversendern sowie Startups wie Brands4Friends, Preisbock & Co.

Noch bitterer sieht es für den deutschen Versandhandel im übrigen aus, wenn man nur zukunftsrelevante Geschäftsmodelle in Betracht zieht und sämtlche Shop- & Katalog-Konzepte, die auch online zunehmend härteren Zeiten entgegen gehen, komplett aus und vor lässt.

Die Dominanz und die angestammte Marktmacht von Otto, Quelle und Neckermann hat in Deutschland dazu geführt, dass kaum neuartige Geschäftsmodelle entstehen konnten. So finden diese inzwischen samt und sonders ihren Weg aus den USA bzw. zunehmend auch aus Frankreich zu uns.

Bleibt also zu hoffen, dass sich der überfällige Strukturwandel nun schnell fortsetzt und endlich die Förderung neuartiger Geschäftsmodelle, die Amazon, QVC und Vente-Privée ernsthaft Paroli bieten können, in den Vordergrund rückt, statt weiterhin veraltete Geschäftsmodelle mit Hängen und Bürgen Würgen über die Zeit retten zu wollen.

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Kategorien:Shopboerse, Ultimondo

1 Antwort

  1. Die klassischen Versender haben in der Vergangenheit durchaus innovative Konzepte auf den Weg gebracht – und dass das in Verbindung mit bestehenden offline-Konzepten geschehen ist, sollte man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Es ist auch kein deutsches Problem – es ist in England, Frankreich, Amerika das gleiche Bild.
    Wenn man sieht, wieviel Besucher und Umsatz die großen Plattformen (die noch immer wachsen) generieren, stehen die Quelle und Otto ja nicht so absolut negativ da, wie hier dargestellt. 1999 ff haben sie viele neue Konzepte gestartet (und wieder eingestellt). Wenn man die vielen neuen Konzepte für sich ansieht, sind sie noch immer ein veschwindend kleiner Umsatz und so gut wie kein Ergebnis-Anteil der Unternehmen. Kein Wunder also, dass man versucht, Antworten mit allen Hebeln zu finden, die einem zur Verfügung stehen. Und dazu zählen auch klassische Anstoßmodelle mit Katalogen, die ja von vielen Deutschen noch immer geschätzt werden.
    Interessant ist, dass in England (wo ich gerade bin) diese Diskussion nicht geführt wird. Da hatte man sie schon vor Jahren, als der große Paradigmenwechsel zwischen dem „Agency“-Geschäft und dem „Direct“-Geschäft stattfand. In UK müsste man angesichts der Erfolge von ASOS und Net-a-porter etc. genauso führen. Es wachsen aber (genau wie in Deuschland), auch die Konzepte wie Boden, CTShirts, N Brown weiterhin – auch bei jungen Kunden.
    In Frankreich sind Retailer und Mail Order-Companies noch weiter abgehängt als in Deutschland. Vente Privee oder priceminister sind reine Online-Konzepte. Aber die fnac z.B. hat es geschafft, sich sehr gut im Internet zu positionieren und viele rein online funktionierende Konzepte zu addieren.

  2. Der erste Absatz klingt ein bisschen wie die SPD, wenn sie sich die Europawahl schön redet ;-)
    Über eines muss man sich einfach im Klaren sein: Die Katalogversender sind die Wachstumsbremsen in einem boomenden Versandhandelsmarkt – und: Der Katalog, nicht der E-Commerce hat Quelle in den Ruin getrieben.

  3. Good point – ich werde mich vielleicht künftig Steinmeier nennen.
    Ich bin ja einverstanden: Online-Konzepte müssen entwickelt werden.
    Aber ich bin nicht der Meinung, dass der Katalog das Problem für den Versandhandel ist. Ist das Geschäft das Problem für den Einzelhandel? Es ist die „Art“ des Ladens und die „Art“ des Katalogs, die das Problem ist.
    Aber da können wir ja auf etliche Diskussionen in diesem Blog zurück-linken…

  4. Hmm – aber ohne Kataloge hätte Quelle auch kein Geld fürs E-Commerce verdient, oder? Die Insolvenz bietet ja gerade die Chance, reinen Tisch zu machen. Ich glaube aber, dass am Ende allerhöchstens eine stark reduzierte Zahl an Katalogen übrigbleiben wird. Ganz verschwinden werden die Dinger nie. Und wer weiß, vielleicht finden heutige Neugeborene Kataloge bald schon wieder cool? #retro
    Die größte Wachstumsbremse im E-Commerce ist aber die Post. Wann wird in Großstädten endlich die Abendzustellung von Paketen eingeführt? Wann ist eine Paketbox auch in meiner Nähe?
    Und erst wenn im allerletzten Kaff in Brandenburg das W-Lan steht, kann der E-Commerce in Deutschland wirklich mit fünf Milliarden mehr Umsatz rechnen.

  5. Gerade sagte mir jemand von ATG (e-Commerce Lösung) hier in London, dass viele Pureplays die Krise des traditionellen Handels nutzen, um Stores oder Kataloge zu lancieren. Sie hätten unschlagbare Vorteile: Eine Organisation, die flexibler und schlanker sei als die der traditionellen, großen Häuser.
    „Die Gnade der späten Geburt.“
    Drehen wir die Frage mal um: Sollten erfolgreiche Pureplayer über Stores und Kataloge nachdenken – oder ist das Unfug?

  6. Grundlage für alles sind vor allem Trends der Gesellschaft, die durch immer kürzer Innovationszyklen bei Medien, Technoligen etc. hervorgerufen werden: Ein verändertes Medien- und Mobilitätsverhalten und daraus resultierendes Kaufverhalten erzeugt quasi „neue Menschen“, für die somit neue/ändernde Geschäftsmodelle designt werden müssen („Es gibt keine unprofitablen Kunden – es gibt nur Kunden, für die das Geschäftsmodell nicht (mehr) stimmt.“) Dies wirkt sich im Versandhandel vor allem auf 2 Geschäftsmodelle aus.
    Geschäftsmodell 1: Katalog-Versandhandel
    Die Kataloge verlieren zusehends an Produktivität und insbs. die Flagschiffe der Branche (Big Books/Hauptkataloge) geraten dadurch zusehends unter Druck. Ansatzpunkte sind vor allem in der Neugestaltung der Katalogstrecken, einem Redesign der Anstossketten und
    Weg von hohen Seitenzahlen (>800) hin zu geringeren Seitenzahlen (200-400) in höherer Taktung zu sehen. Durch diese Maßnahmen kann ein am Markt bereits länger etabliertes Geschäftsmodell teilweise reanimiert werden. Lebenszyklus dieses Geschäftsmodelles
    ist aber die Reife-/Abschöpfungsphase. D.h. es herrscht ein knallharter Verdrängungswettbewerb bei zeitgleich sinkenden Gesamtmarkt.
    Geschäftsmodell 2: Online-Handel:
    Aufgrund des sich ändernden Medienverhaltens entsteht eine neue Art des Käufers (nennen wir Ihn mal „aufgeklärter Kunde“), der durch vielfältige Mediennutzung und hohe Mobilität eine sehr hohe Transparenz über die Leistung nahezu aller Marktteilnehmer hat und diese in sein Anspruchsniveau einordnen kann. Wettbewerber in diesem Markt zeichnen sich vorrangig dadurch aus, dass Sie den Kunden als Teil Ihrer Wertschöpfung erkennen und quasi all Ihre Prozesse aus Sicht der Kunden (und deren Nutzen) aufgesetzt haben. Dies macht es den Kunden leichter die individuellen Nutzenbündel zu erkennen. Hierbei handelt es sich um ein Geschäftsmodell mit den typischen Zeichen einer Wachstumsphase.
    Nahezu alle Versender, die ihre Heimat im Geschäftsmodell 1 haben, tun sich jedoch schwer einen Geschäftsmodellwechsel einzuleiten. So deklariert zwar jeder den stärkeren Shift ins Online-Geschäft als primäres Ziel (Zielstellungen: 60-80% Internetanteil), jedoch ist allen Branchenbeobachtern klar dass der Großteil des Online-Shop-Umsatzes offline (z.B. durch Kataloge) initiiert ist und somit nur online ausgeführt wird (zudem kompensieren bei vielen die Wachtsumswerte im Internet kaum die Verluste im Printgeschäft). Gepaart mit den Auffälligkeiten („Internetkunden sind generell schlechter als die Printkunden“) entsteht ein Spagat zwischen „Ins-Internet-wollen“ und „Nicht-von-den-Printkunden-loslassen-können“).
    Ich wage daher die These, dass eine Insolvenz von Quelle den Versandhandelsmarkt in Deutschland nicht grundlegend revolutionieren wird. Vielmehr besteht sogar das Risiko, dass nach einer Komplettinsolvenz der Quelle sich viele auf den Kundenstamm der Quelle stürzen und versuchen diesen in Ihre Kundendateien aufzunehmen. Nur das sind eher auch Kunden aus dem klass. Geschäftsmodell 1 und sorgen daher nur für einen Aufschub eines auslaufenden Geschäftsmodells (siehe Wiedervereinigung als Push für einen schon zu Ende der 80iger <jahre darbenden Versandhandelsmarkt in Deutschland).
    Eine Neubelebung des Versandhandelsmarktes wird meiner Einschätzung nach nur durch neue, frische, wagemutige Konzepte kommen (egal von wem) und nicht durch das Wegfallen bestehender Wettbewerber.

  7. Denke auch nicht, dass durch die Insolvenz nun alles anders wird. Gute Konzepte hatten auch schon vorher die Chance – was fehlt sind eben die (professionellen) Umsetzungen dieser Ideen die bestimmt in so manchem Kopf rumschwirren.
    Sportscheck macht das mit den Katalogen ja auch und ich bin auch froh dass sie gibt. Kaufe und surfe auch viel online aber dennoch setzt man sich auch gern mal auf die Couch oder raus mit dem neuen Katalog. Gekauft wird aber dann online ;)

  8. Ich glaube das gerade die Pure-Player online mit der stationären Einheit einen sehr attraktiven Weg gehen können. Sofern es strategischer Ausrichtung bleibt (keine Angst vor Verdrängung der beiden Kanäle) und sofern man immerhin etwas Stationär-Handels-KnowHow hat.

  9. Es geht hier doch weniger um Katalog vs. Online, sondern um neue gegen alte Strukturen. Es ist eben ein Irrtum, zu glauben, dass man erfolgreich E-Commerce machen kann mit alt hergebrachten Handelstrukturen und Prozessen. Für erfolgreichen E-Commerce benötige ich die entsprechend schlanken, adäquaten, Prozesse. Und die entsprechende Denke. Was nutzt mir der massive Traffic und Umsatz auf Quelle.de, wenn „dahinter“ die ca. 500 Katalogware-Einkäufer sitzen?

  10. Ah meine Lieblingsdiskussion – vorsicht !
    Worin genau besteht der Unterschied zwischen dem Sortiment „Katalogware“ und dem Sortiment „Online-Ware“ ?
    2t-Haar-Frisuren vs. hipper BENCH-Sweater ?
    Gehts hier mehr um Zielgruppen ?
    Quelle.de hat knapp 700.000 Artikel online (davon zugegebenermaßen ca. 400k Bücher/CDs). Wie hoch ist wohl die Überschneidung zu Amazon.de ?
    Zusatz: Einer der wenigen denkwürdigen Einkäufer-Sprüche meines Lebens: „Einen LCD-TV mit 46Zoll, Full-HD für 350Euro kann man in jeder beliebigen Menge über jedes beiliebige Geschäftsmodell verkaufen…nur nicht einkaufen“

  11. @dc: Deshalb hat Otto in England ja Oli.co.uk bewusst abseits vom Hauptgeschäft gestartet. Und das andere „neue“ Konzept, Montage, wird jetzt wohl wieder zu gemacht. Das war wohl auch relativ losgelöst, aber da bin ich nicht sicher.

  12. Da hat dc meiner Meinung nach recht:
    Wenn ein Unternehmen *strukturell* komplett auf das altmodische Big Book getrimmt ist; seine kompletten Prozesse (und IT) darauf ausgerichtet hat, zweimal im Jahr den Kunden einen schweren Ziegelstein aus Unverbindlichkeit in den Hausflur zu werfen, und aus sich heraus nicht in der Lage ist, von diesem marktgegenläufigen Wahnsinn abzulassen und die wichtigen Ressourcen sofort und wirklich Richtung Online umzushiften (bzw. Online ins Lead zu setzen), für so eine Company sieht’s wahrlich düster aus. Das ist keine Annahme sondern täglich zu beobachtende Realität.
    Ja klar, schnellere, spezifischere Kataloge wollen noch viele (Deutsche), wenn man den Zahlen glaubt oder der Begeisterung über den H&M Katalog. Ein Handelsunternehmen aber, das sich selbst mit einer Einkaufsarmee und Druckerei verwechselt und zur Neuinterpretation seines Kerngeschäftsmodells intellektuell und/oder strukturell nicht in der Lage ist, wird den Weg alles Irdischen gehen.
    Prozesse und Selbstverständnisse aus der Mottenkiste in diesen, neuen wie schnellen Zeiten killt nämlich jegliche Innovation und Neudenke bereits im Ansatz.
    Wie hieß es mal so schön: Statt ARCANDOR hätte man auch MINISTERIUM FÜR BEDENKENTRÄGEREI aufs Dach in Essen pinnen können. Ich hoffe, der Rest der old economy mailorder Branche wacht wenigstens jetzt auf, wo die Feuer am Horizont in größter Nähe lodern.

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