Debatte: Haben sich Full-Service-Modelle in der Logistik überlebt?

Haben Fullservice-Modelle, wie das von Netrada, im Online-Handel ausgedient? Rund um dieses Thema hat sich diese Woche eine lebhafte Diskussion entwickelt:

"Wenn
Matthias Schrader recht mit der Einschätzung hat, so ist dies eine alarmierende Aussage
für die ganze Branche."

Oliver Lucas, der 2010 mit Dohmen Solutions und s.Oliver in einer ähnlichen Lage war ("Zalando-Logistiker übernimmt insolventen Wettbewerber"), schreibt in seinen Einschätzungen:

Netradaservices

"Die
Herausforderung beim Outsourcing besteht darin, dass beide Partner sich
mit den Chancen und Risiken des Geschäftsmodells auskennen müssen. (das
würde ich bei Netrada mal annehmen…) Hierzu passend muss auch das
Vergütungsmodell aufgestellt sein.

Verhängnisvoll kann sich das (von Netrada präferierte) Net Sales Model
auswirken, wenn die Umsätze mal nicht kontinuierlich wachsen, die
Retourenquote steigt und der Lagerbestand im Verhältnis zum Umsatz
deutlich zu hoch ist. Die Ursachen hierfür liegen selten beim
Dienstleister, sondern meistens beim Anbieter. (…)

Es sollte kein Geheimnis sein, dass die Fulfillment Branche in den
letzten Jahren stets mit niedrigen Margen zurechtkommen musste. Entgegen
Investitionen in Marke und Marketing werde Fulfilment Kosten meist als
notwendiges Übel angesehen und nicht als Bestandteil einer strategischen
Ausrichtung für Service und Kundenbindung.

Daher wird um jeden Cent
gefeilscht, anstelle eine Optimierung von Geschäftsprozessen im
Zusammenspiel von Anbieter und Dienstleister im gemeinsamen Interesse
anzustreben.

Erschwerend bekämpft sich die Fulfilment Branche oft
selber, da in Ausschreibungen und Vertragsverlängerungen oft einer der
Dienstleister den Kunden unbedingt gewinnen (behalten) will und dafür
notfalls auch nicht kostendeckende Vergütungen in Kauf nimmt.

Das Schwungrad von Netrada und seinen Kunden ist allerdings so groß,
dass sich bestimmt eine (wie auch immer geartete) Fortführung ergeben
wird.

Spannend ist, wer hier am Ende des Tages investiert und ob das
sehr intransparente Full Service Modell von Netrada dabei überleben
wird."

Man kann gespannt sein, ob bei Netrada ähnlich schnell jemand einspringt wie damals Docdata bei Dohmen (siehe Pressemitteilung/PDF).

Alle Anmerkungen und Kommentare zu diesem Thema finden sich hier.

"25 Antworten zum „Direktvertrieb E-Commerce“ für Hersteller, Marken & Großhändler" hat Alexander Graf in der Kassenzone.

Frühere Beiträge zum Thema:



Kategorien:Shopboerse

1 Antwort

  1. Ich möchte hier kurz die treffenden Anmerkungen von Oliver Lucas ergänzen.
    Eine der größten Herausforderungen im Fulfillment (speziell in der Logistik) ist das Management von sich verändernden Strukturparametern.
    Geben Dienstleister im Rahmen einer Ausschreibung Angebote ab, dann auf Basis definierter Strukturparameter (Bsp. Auftragsstruktur Warenkorb). Diese Parameter orientieren sich mehr oder weniger an der IST-Situation. Auf Basis dessen unterbreitet der Dienstleister ein Angebot, was zu dem Zeitpunkt schon „quasi“ bindenden Charakter hat.
    Ändern sich dann im Laufe einer Geschäftsbeziehung einzelne Parameter (z.B. Sortiment, Warenkörbe, Anlieferstruktur) so hat das direkten Einfluss auf die Kostenseite. Abhängig vom Verrechnungsmodell, fühlt sich entweder der Dienstleister oder Versender benachteiligt.
    Um diese Risiken einzugrenzen, werden gerade bei großen Fulfillment-Lösungen Bandbreiten für Strukturparameter vereinbart. Hierbei wird suggeriert, die unsichere Prognose, wie sich Strukturparameter zukünftig entwickeln, ein wenig sicherer zu machen. Grundsätzlich ein guter Ansatz.
    Es muss aber hier im Detail der Nachweis geführt werden, ob beispielsweise die (durchschnittliche) zusätzliche Auftragsposition bei einer Bestellung tatsächlich zu einem höheren Personalaufwand oder zusätzlichen Investitionen beim Dienstleister führt.
    Geschieht dies nicht, wird sich eine der beiden Seiten immer benachteiligt fühlen.
    Meiner Meinung bedarf es einer völlig neuen Kultur in der Zusammenarbeit von Dienstleistern und Versendern. Eckpunkte einer verbesserten Kultur sollten sein: Verzahnung von Prozessen, aktives Management von Änderungen, Transparenz hinsichtlich Strukturänderungen und Auswirkung auf die Kosten.

  2. Sorry to post in English, but even if I learned German at school, I will not be able to contribute correctly in this language…
    By the way, congratulations to all people at excitingcommerce.de, you are running a great source of information!
    As the CEO of a full-service agency, based in Paris and New York, and focused on premium brands, I just wanted to add my contribution to the debate on full-service business.
    First I must confess that I have been stunned by the news of Netrada bankruptcy. And still now, I am wondering what really happened…
    But since we founded Brand Online Commerce in 2008, we have seen so many full-service companies crashing, just because of off-balanced contracts: eFashion Solutions, Inspirational Stores, MixCommerce, e-Merchant… and probably now Netrada.
    At Brand Online Commerce, we truly think that full-service business is all about good balance in the partnership and the contract: that is to say, good balance in who is paying what.
    We have lost a lot of competitions because we were „too expensive“ in comparison to some other offers. Even today, we still lose competitions for that reason. But crushing its tariff just to gain a customer is a poor decision in full-service business: because you will then have to run a non-profitable customer for many years! So you will continously need shareholders cash, up until the day those shareholders tell you the game is over.
    Almost all full-service companies that have raised a lot of money (10M€, 20 M€ and sometimes even more…) have put themselves in an impossible situation of being obliged to gain new brands rapidly. So they did gain customers rapidly (well at least more rapidly than we did), but losing money on each single contract. Their bet was: „OK, we lose money now, but when the volumes will be bigger, it’s gonna be OK“. But when you enter into a long-term contract with a short-term strategy and poor pricing, that can not work!
    Full-service definitely needs a long-term approach. That implies humility, hard working, flexibility and a full transparency on organisation and costs. And of course, a strong knowledge and comprehension of the brands you are working for.
    I think that following a slower but more cost-oriented path is what allows us to build a full-service company that is now profitable.

  3. @Tim
    Sehr guter Beitrag. Exakt so ist es. Die Angebote und Verträge werden auf Basis von Erfahrungen mit ähnlichen Kunden und (oft unrealistischen) Annahmen gemacht, die dann meistens in der Realität so nicht eintreten. Eine der beiden Parteien fühlt sich dann schnell benachteiligt, was erst mal immer eine ganz schlechte Voraussetzung für ein Geschäft ist, was ohnehin nur funktionieren kann, wenn beide Seiten komplett an einem Strang ziehen. Für mich gibt es daher für ein solches Modell nur einen einzigen Weg: Es muss immer „open book“ gespielt werden und das Abrechnungsmodell muss Cost+Marge sein. Anders kann das imho nicht funktionieren. Dann kann der Auftraggeber immer entscheiden, ob ihm Cost+Marge des Dienstleisters zu hoch sind im Vergleich zum Wettbewerb, aber er weiss immer, dass er einen fairen Preis bezahlt. Auf der anderen Seite hat der Dienstleister eine sichere Kalkulationsgrundlage, die auch Investitionen zulässt und eine Motivation, gut zu arbeiten, weil er die absolute Marge durch entsprechende Massnahmen zur Umsatzsteigerung erhöhen kann. Das Risiko liegt dann beim Auftraggeber, wo es imho auch hingehört. Der Grund seinen eCommerce out zu sourcen sollte immer die fehlende eigene Expertise sein, nicht der Versuch, möglichst billig ein „wir verkaufen auch Online“ Geschäft risikolos zu betreiben. Ich kann für die im Markt verbliebenen Fullservice-Dienstleister nur hoffen, dass sie zu dieser Einsicht gelangen, bevor sie alle pleite sind.

  4. @Christophe – thanks for your comment, I fully agree. Who needs growing Revenues if the overall margin has the wrong prefix?
    @Claus/Tim
    Diese Vorstellungen, wie das in der idealen Welt laufen sollte kann ich sehr gut nachvollziehen. Ansätze mit Open Books und Cost + Marge sind fair und sinnvoll. Aber leider sind „wir“ im deutschsprachigen Raum anscheinend nicht immer an nachhaltigen und langfristigen Lösungen und Partnerschaften interessiert (Geiz ist auch im B2B geil?!). Auch wenn das für alle Beteiligten über einer langen Zeitraum sinnvoller wäre und im Zweifel 0,10 € Mehrkosten je Warenkorb das eigene Geschäftsmodell nicht kaputtmachen dürften sind es häufig solche Größenordnungen, die zu Wechselwilligkeit führen. Immerhin macht das bei 1 Mio Aufträge bereits 100.000€ Mehrkosten p.a. aus. Wenige Marken / Händler lassen sich jedoch auf die Diskussion dahingehend ein, dass eine Optimierung von Disposition und Lagerumschlag (im Zweifel auch mal mit regelmäßigen Bestandsrückführungen) mit weniger Kapitalbindung und Lagerkosten zum gleichen Umsatz führen kann. Die Kosten gehen dann quasi automatisch mit runter und erhöhen somit den Deckungsbeitrag.
    Gleichfalls sollte der Dienstleister über sinnvolle Reports die Durchlauferhitzer (ständig retournierte Artikel, tlw. 100% Retourenquote!) eigenständig aus dem Sortiment nehmen dürfen. (Ergo „mehr Netto vom Brutto“, weniger Kosten, höhere Marge – und: zufriedenere Kunden!) Oder wie wäre es mit einer gemeinsamen Optimierung des Wareneingangs oder der zugehörigen Avise? Das sind oft die Hauptkostentreiber im weiteren Prozessverlauf. Über solche Steuerungsparameter agieren Marken / Händler dann im Sinne einer Partnerschaft und optimieren das Geschäftsmodell. Dann wird die Diskussion über 0,10€ Preisnachlass schnell obsolet. Wie wäre es dann mit einer Beteiligung des Dienstleisters an der zusätzlichen Marge? Naja, wir wollen ja nicht träumen….
    Strategie und Prozess gehören unveränderlich zusammen. Zur Strategie gehört zwar einerseits ein zu Ende gedachtes Business Modell (grob formuliert: Wirtschaftlichkeit = Umsatzpotential – Marketingkosten – (externe + interne) Betriebskosten – Produktkosten), aber auf jeden Fall die sinnvolle Zusammenstellung des Dienstleisterportfolios.

  5. Diskussion um ‚Full-Service E-Commerce‘
    Bereits im Oktober 2012 haben wir in unserer Management-Update Reihe einen Beitrag gepostet unter dem Titel ‚Full Service E-Commerce macht blind‘, eine Abhandlung zu zeitgemässen Sourcing-Strategien.
    http://www.dmc.de/360-e-commerce/sourcing-strategien.html
    Fakt ist:
    – der Reifegrad in den Unternehmen im Hinblick auf die Umsetzung von Teilen der E-Commerce Wertschöpfungskette steigt zunehmend
    – klare Tendenz zu Insourcing von Teilen dieser Wertschöpfungskette
    – zunehmende Erkenntnis, dass die Fähigkeit BtoC Logistik selbst abzubilden sowohl einen Kosten- als auch einen Servicehebel beeinflussbar macht
    – daher zunehmende Tendenz zu ‚Best of Breed – Strategien‘
    Das Full-Service Modell schießt daher tendenziell am Bedarf vorbei (hat es und wird es auch in Zukunft). Jeder Full-Service Dienstleister muss an 3 Fronten überzeugen, Syteme, Logistik und Vermarktung (Service…) und dass dann auch noch in der komplexen Fashion-Welt…
    Not so easy….

  6. Um hier radikal dagegen zu Argumentieren: Natürlich muss eine Beratung eine Tendenz zu Best-of-Bread, bzw. zum Insourcing erkennen – sonst gäbe es ja nichts zu „beraten“. Insbesondere bei einem Best-of-Bread Ansatz kann bei der Auswahl der Dienstleister und vor allem durch die meist deutlich komplexeren IT-Landschaft sicherlich immer gut verdient werden.
    vielleicht ist deshalb auch Fakt:
    Full-Service = Plus beim Thema „Time to Market“
    Full-Service = Focus auf (die eigenen) Strategien statt „lästige Logistikoptimierung“
    Full-Service = ermöglicht starkes Wachstum
    Full-Service = Skalierbarkeit mit niedrigem eigenem Risiko
    Full-Service = (Beratungs-)Expertise zu minimalen Kosten
    Das Full-Service Modell hat in der Regel ein Problem durch maximale Transparenz.
    Inhouse-Prozesse werden dagegen häufig nicht als Vollkosten abgebildet oder Mitarbeiter aus dem Bereich „Eh-da-Kosten“ übernehmen einzelne Aufgaben. Darüber hinaus sinkt leicht der „Service-Level-Anspruch“ sehr schnell, wenn etwas Inhouse gemacht wird: „man hat einfach nicht mehr Mitarbeiter“ oder Ineffizienzen in Prozessen oder der IT werden einfach akzeptiert.
    Und final fällt es mir schwer zu glauben, dass die Expertise so „einfach“ stets intern aufzubauen ist. Auch Full-Service-Anbieter müssen sich ziemlich anstrengen, mit dem dynamischen Marktumfeld mithalten zu können obwohl dies das Kerngeschäft ist (ganz zu Schweigen vom schwierigen Personal-Sourcing). Warum sollte es hier jmd. durch Insourcing“ leichter haben oder besser aufgestellt sein?

  7. @Sebastian Du argumentierst nicht dagegen, Du argumentierst von der „anderen Seite“. Nämlich von der des Auftraggebers. Und damit hast Du komplett recht, denn selbstverständlich ist Fullservice aus den von Dir beschriebenen Gründen für den Auftraggeber hoch attraktiv. Nur schiebt er eben die Verantwortung und damit auch die Fixkosten zum Dienstleister und der geht im Zweifel daran einfach unter, wie man jetzt sieht. Wenn es der Auftraggeber wirklich ernst meint, mit eCommerce, sollte er sich bei den von Dir aufgeführten Punkte auf:
    Full-Service = Plus beim Thema „Time to Market“
    Full-Service = Focus auf (die eigenen) Strategien statt „lästige Logistikoptimierung“
    Full-Service = ermöglicht starkes Wachstum
    beschränken und den Anspruch, dies mit „niedrigem eigenen Risiko“ und „minimale Kosten“, schnell vergessen. Fullservice wird mindestens genauso teuer, wie ne Inhouse-Lösung, aber man hat eben den Vorteil, dass man sofort loslegen kann, ohne selber das Know-How zu haben.

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